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27.06.2018 00:00
Petersburg, Weiße Nächte,
Fußball und ein Gesamtkunstwerk
Gert-Ewen Ungar ist bei seiner Tour durch Russland in St. Petersburg angekommen
und liefert auch in dieser Folge seiner alternativen WM-Kolumne für die
NachDenkSeiten einen alternativen Blickwinkel auf „Putins Reich“. Dieses Mal
geht es bei Gert-Ewens subjektivem Reisebericht vordergründig um ein Feuerwerk,
ein Hochhaus und „Stalingrad“... [Quelle:
nds.de] JWD
Von Gert-Ewen Ungar | Quelle: nds.de
| 26.Juni 2018
|
Quelle: nds.de |
...Eigentlich geht es aber um gesellschaftliches Engagement, Liberalität und
die russische Zivilgesellschaft; drei Punkte, die in der
Russland-Berichterstattung der großen Medien meist sehr stiefmütterlich behandelt
werden.
Es waren zwei Großveranstaltungen an einem Tag. Am Samstag richtete Russland
nicht nur das WM-Spiel Deutschland gegen Schweden aus. Am selben Abend fand noch
das alljährliche Festival “Alye Parusa” statt. Für Deutschland war das Spiel von
entscheidender Bedeutung. Es ging bekanntlich gerade nochmal gut für die
deutsche Mannschaft und ihre Fans. Sieg in sprichwörtlich letzter Minute.
Darüber wurde ausgiebig berichtet, weshalb hier für einen Moment der Fokus auf
den im Rahmen der “Weißen Nächte” stattfindenden Event “Alye Parusa” gelegt
werden soll. Alye Parusa ist das wohl größte regelmäßig stattfindende Feuerwerk
Europas. Feuerwerk ist daher auch womöglich der falsche Begriff. Die russische
Sprache unterscheidet zwischen Feuerwerk (фейерверк) und Salut (салют). Ein
Salut ist deutlich größer als ein bloßes Feuerwerk. Alye Parusa ist noch ein
bisschen größer als ein Salut. Es ist ein durchkomponiertes Gesamtkunstwerk und
zieht jährlich eine große Zahl Besucher an, wird daher live im Russischen
Fernsehen übertragen.
Dass man trotz dieser Größe und Bedeutung davon in Deutschland kaum Kenntnis
besitzt, sagt ganz deutlich etwas über den Zustand unserer Medien und ihres
Verhältnisses zu Russland. Es wäre einfach eine jährlich wiederkehrende,
positive Nachricht zu einem Ereignis, das viele andere Großevents in Europa
schlicht in den Schatten stellt. Doch positive Nachrichten aus Russland sind
schlechte Nachrichten für den Mainstream, denn sie passen nicht in das
etablierte Narrativ. Da räumt man lieber einer Notiz über die Gay Pride in
Rostock oder in Koblenz Raum ein.
Petersburg, das haben die deutschen Fans sichtlich schnell und intuitiv richtig
verstanden, ist mit Sicherheit eine der offensten, pulsierendsten und
liberalsten Metropolen Europas. Den deutschen Fans ist das nicht entgangen, als
sie nach dem Spiel den Sieg ihrer Mannschaft im Zentrum Petersburgs feierten. So
hatte man sich Russland nicht vorgestellt: offen, tolerant, frei und sicher. Wo
waren nur all die russischen Hooligans, vor denen der deutsche Mainstream immer
gewarnt hatte?
Es ist wirklich bedauerlich, dass wir in Deutschland so schlecht, vor allem aber
so einseitig über Russland informiert werden. Natürlich gibt es auch in Russland
Probleme, aber man muss erst einmal wieder zu einer unvoreingenommenen,
objektiven Sicht kommen, um diese überhaupt benennen zu können. Dieses Bemühen
um Objektivität würde erstaunliche Informationen zutage fördern.
In Petersburg gibt es zum Beispiel gerade eine Initiative, die mit der Vielfalt
der vorhandenen Angebote für LGBT zusätzlich Touristen anlocken möchte. Die
Initiative wird es ausgesprochen schwer haben, steht sie doch inhaltlich
diametral zu dem, was in Deutschland über Russland erzählt wird. Sie wird sich
mit einem der drei in Deutschland wohl bestgepflegten Vorurteile gegenüber
Russland auseinandersetzen müssen, nämlich dem, dass dort die Homophobie
grassiert. Die anderen beiden sind: Russland ist auf allen Ebenen aggressiv und
Russland ist eine korrupte Diktatur. Dabei genügt ein Blick in die
Unterhaltungssendungen der Fernsehsender und die Kenntnisnahme der Zeugnisse der
Pop-Kultur, um zumindest den Verdacht aufkommen zu lassen, dass an der These vom
homophoben Russland nicht allzuviel dran sein kann. Doch schon dieser kleine
Einblick in die Zeugnisse der russischen Unterhaltungsindustrie wird den
Deutschen verwehrt.
Das hat seinen Grund, denn das ganze Gerede von der grausamen Unterdrückung von
Minderheiten und Andersdenkenden, das Geschwätz über Diktatur und russische
Aggression hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Um ein Beispiel aus
Petersburg zu geben: Gerade in Petersburg versetzen bürgerschaftliches
Engagement ganze Wolkenkratzer.
Als das staatliche russische Energieunternehmen Gazprom mit dem Plan aufwartete,
ins Zentrum von Petersburg das höchste Bürohochhaus Europas zu bauen und das
Stadtbild mit einem zeitgenössischen Glaspalast der Superlative zu bereichern,
regte sich vehementer Protest. Es gab zahlreiche Aktionen und Demonstrationen
gegen das Projekt. Schließlich wurde ein Kompromiss ausgehandelt. Gazprom baute
zwar den Büroturm gut sichtbar in Ufernähe, aber fern vom historischen
Stadtzentrum. Das multifunktionale Lachta-Center soll im Herbst eröffnet werden.
Es war ein enormes Bauvorhaben, das gleich mehrere Rekorde aufstellte.
Screenshot | Quelle: nds.de
Es wird demnächst allerdings in puncto Höhe auf Platz zwei verwiesen. Der
Achmat-Tower in Grosny wird das Lachta-Center überragen. Man kann sich an den
Satz ja schon mal gewöhnen: Das höchste Bürogebäude Europas steht in
Tschetschenien. Auf den Anblick des verkniffenen Munds von Golineh Atai bei der
Erwähnung der Tatsache freue ich mich heute schon. Der Bau des Lachta-Centers
kann in seinem Ausmaß durchaus mit großen Bauvorhaben in der Bundesrepublik
verglichen werden. Mit Stuttgart 21 beispielsweise. Als sich angesichts des
Bauvorhabens des staatlichen Konzerns Deutsche Bahn, den Hauptbahnhof von
Stuttgart unter die Erde zu verlegen und massiv ins Stadtbild einzugreifen,
obendrein Infrastruktur zurückzubauen und große bauliche und finanzielle Risiken
aufzunehmen, zivilgesellschaftlicher Protest regte, wurde darauf mit rigoroser
staatlicher Gewalt reagiert und das Projekt gegen allen Sachverstand und bessere
Argumente durchgesetzt.
Heute gestehen die Verantwortlichen, dass die Umsetzung von Stuttgart 21 keine
gute Idee war. Man würde Stuttgart 21 mit dem heutigen Wissen nicht mehr machen,
lässt sich Bahnchef Richard Lutz im April zitieren. Es ist schwer, sich des
Eindrucks zu erwehren, gerade weil sich bürgerschaftlicher Protest geregt hat,
wurde das Projekt umgesetzt. Und je größer der Widerstand wurde, desto stärker
wurde der Wille der politischen Elite zur Durchsetzung des Projekts. Weniger um
des Projekts Willen – mehr um des Willens einer Demonstration von Macht.
In Haftung wird man ohnehin nicht zu nehmen sein. Die Kosten für das scheiternde
Mammutprojekt werden diejenigen tragen, die vor den Gefahren und Risiken gewarnt
haben, sich daher gegen die Umsetzung ausgesprochen haben: die Steuerzahler. Das
hat mit Demokratie freilich wenig zu tun, das nennt man Zynismus.
Man kann die Umsetzung der beiden Bauvorhaben tatsächlich gut vergleichen und
daran den Zustand der Politik und ihr jeweiliges Verhältnis zur
Zivilgesellschaft ablesen. Deutschland schneidet in diesem direkten Vergleich
schlecht ab. Es gäbe da für Russland noch zahlreiche Beispiele, in denen sich
Zivilgesellschaft durchgesetzt hat. Man kann sich auf den Kopf stellen wie man
will, aber bürgerliches Engagement wird im Vergleich mit Deutschland in Russland
deutlich stärker beachtet und eingebunden. Da wundert es nicht, dass sich manch
deutscher Fußballfan vorstellen kann, in solch einer “geile(n) Diktatur” leben
zu können – sie ist nämlich einfach keine.
Es wäre schön, wenn sich der deutsche Mainstream dazu herablassen würde, hin und
wieder auch über solche Zeugnisse zu berichten, die dem eingeübten Narrativ
widersprechen. Das wäre ein Beitrag zur Pluralität und Vielfalt, zu dem guter
Journalismus eigentlich ganz selbstverständlich einen Beitrag leisten sollte.
Das wäre ein erster Schritt, damit auch in Deutschland die Breite des Sagbaren
wieder zunehmen kann. In Demokratien wird nämlich breit diskutiert. Manche
scheinen das vergessen zu haben.
Russland kann Deutschland tatsächlich in vielerlei Hinsicht als Beispiel dienen.
Das Gefühl, in einer Demokratie mit tatsächlicher Beteiligung der Bürger zu
leben, würde dadurch auch in Deutschland wieder zunehmen, würde man manchem
Beispiel folgen.
Russland? Beispiel? Für Deutschland? Klingt komisch, ist aber so. Dass es so
komisch klingt, zeigt auch, wie sehr wir von den Entwicklungen, die Russland in
den letzten Jahren genommen hat, medial abgeschirmt wurden.
Als kleine Anekdote lässt sich hier noch erzählen: Vor einiger Zeit gab es in
der Stadt Wolgograd eine Bürgerinitiative, die zum Ziel hatte, die Stadt wieder
in Stalingrad umzubenennen. Der Kelch zog an uns vorüber, was fast schon
bedauerlich ist. Die hysterische Schnappatmung, in die der deutsche Mainstream
verfallen wäre, hätte manch einem wochenlanges Amüsement eingebracht. Mir zum
Beispiel.
Es täte uns gut, zur Kenntnis zu nehmen: Russland ist ein Land, das uns gerade
in vielerlei Hinsicht überholt. Ein Land, in dem die schon erwähnten Grenzen des
Sagbaren weiter gesteckt sind als bei uns. Und in diesem Land gibt es Städte wie
Petersburg, die gleichsam als Avantgarde nochmal offener sind als der Rest des
Landes. Die deutschen Fans konnten das fühlen.
Die Anzahl dieser liberalen Städte nimmt obendrein zu. Es ist gerade ein Trend
bei Petersburger Intellektuellen und Künstlern, der Stadt den Rücken zu kehren,
um in einer kleineren russischen Stadt die dortige Offenheit und Freiheit in
Verbindung mit ihrer Übersichtlichkeit zu genießen.
Es ist die Stadt Kaliningrad, die gerade ganz groß in Mode ist. Wer in den
letzten Jahren Kaliningrad besucht hat, weiß auch warum. Kaliningrad ist im
Aufbruch. Auch das bleibt uns verborgen, denn Deutschland bekommt eine halbwegs
anständige Zusammenarbeit mit der einstigen ostpreußischen Metropole nicht
zustande, obwohl die Stadt für die deutsche Geistesgeschichte von herausragender
Bedeutung ist.
Immanuel Kant, einer der ganz großen deutschen Philosophen und Verfasser von
Epoche machenden Werken lebte dort. Das Andenken an den Verfasser von “Zum
ewigen Frieden” wird jetzt von Russland bewahrt.
Obendrein ist die Pflege dieses Andenkens Präsident Putin offenkundig ein
persönliches Anliegen, denn die Renovierung des baufälligen Kant-Hauses bezahlt
er aus der ihm zur Verfügung stehenden Präsidenten-Reserve.
Vermutlich ist der deutsche Mainstream oder ein den Grünen nahestehender
Think-Tank in der Lage, den zweifelsfreien Beweis zu führen, dass genau das der
Beleg dafür ist, dass es sich bei Putin um einen machtbesessenen, egomanischen
und größenwahnsinnigen Diktator handelt. Doch mit klarem Verstand und einem
Hauch Vernunft begabt deutet man das anders.
Link zum Originaltext bei ' nachdenkseiten.de ' ..hier
Passend zum Thema:
19.06.2018 22:00
Ein Russisches Sommermärchen
Es steht außer Frage, die Stimmung hier ist einzigartig. Wer sich an den
Fußballsommer im Jahr 2006 in Deutschland erinnern kann, der hat in etwa eine
Ahnung, was aktuell gerade in Russland passiert. Am Samstag bin ich aus
Deutschland angereist. Man könnte es auch eine Flucht nennen. Eine Flucht vor
einer erschreckend niederträchtigen Berichterstattung in den deutschen Medien
gegenüber Russland... [Quelle:
nds.de] JWD ..weiterlesen
24.06.2018 11:00
Das WM-Foul
Richard Herzinger hetzt in der „Welt“ gegen Russland, dass es seinesgleichen
sucht. [Quelle:
rubikon.news] JWD
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Tags:
Bürgerproteste, direkte Demokratie, Gazprom, Homosexualität, Hooligans,
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