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05.03.2016 01:30
Merkels Popularität gründet auf Vergessen,
Ausblenden und dem Wunsch, dazu zu gehören
Angela Merkel wird bei der nächsten Bundestagswahl 2017 vermutlich die absolute
Mehrheit der Mandate anpeilen. Unrealistisch ist das nicht. Es gründet nicht auf
einem wahren Erfolg ihrer Politik. Diese ist eher zum Verzweifeln. Aber Merkel
kann realistischerweise darauf hoffen, dass ihre eigene Parteiklientel aus CDU
und CSU mit der Strategie „getrennt marschieren und vereint schlagen“ Punkte und
WählerInnen sammelt, und dass zusätzlich links und linksliberal geprägte
Menschen auf sie einschwenken. [Quelle: nds.de / A. Müller] JWD
Quelle: nds.de (verlinkt)
Wir konnten das bei den Reaktionen auf Merkels Auftritt bei Anne Will vom
vergangenen Sonntag beobachten. TAZ-Redakteure zum Beispiel erwägen, Merkel und
zum ersten Mal CDU zu wählen. Im persönlichen Umfeld begegnen mir
Sozialdemokratinnen, die mit Respekt über Merkels Flüchtlingspolitik und den
Auftritt bei Anne Will berichten. Ja, die grünen und roten Spitzenkandidaten der
Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz loben die
Bundeskanzlerin.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast
verfügbar.
Merkels Popularität gründet auf Vergessen, Ausblenden und dem
Wunsch, dazu zu gehören. - Albrecht Müller [ 11:41 ]
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Wer die schlimme Lage sehr vieler Menschen in unserem Land und in anderen
Ländern Europas im Blick hat und wer beachtet, wie groß die Verantwortung der
Bundeskanzlerin für diese Zustände ist, kann eigentlich fast nur noch
verzweifeln
Gestern Abend trat Christoph Sieber im „Tollhaus“ in Karlsruhe auf. Die
Verzweiflung über das Ausblenden und die Ignoranz gegenüber der Realität war ihm
ins Gesicht geschrieben. Das letzte Stück der Vorstellung – hier in einer
früheren Version bei 3Sat – sei hier verlinkt, damit Sie, liebe Leserinnen und
Leser der NachDenkSeiten einen unmittelbaren Eindruck davon bekommen, wie die
Realität in einem wichtigen Segment unserer Politik aussieht –
bei der Frage um Frieden oder Krieg.
So fängt das Stück von Christoph Sieber an (in den nächsten Tagen wird der volle
Text nachgereicht): „Ich will mich nicht gewöhnen, dass Deutschland Teil einer Kriegsmaschinerie
ist. Ich will mich nicht gewöhnen, wenn der SPIEGEL schreibt, das Deutschland
endlich in der Normalität angekommen ist, wenn es sich an internationalen
Kriegseinsätzen beteiligt. Die Beteiligung an Kriegen darf nie Normalität
werden.“ Angela Merkel hat uns aber in ihrer Zeit als Bundeskanzlerin immer mehr zum Teil
einer Kriegsmaschinerie gemacht. Schon das blenden die linksliberalen Verehrer
der Bundeskanzlerin aus. Das kann man doch nicht machen.
Sie blenden noch viel mehr aus. Und sie verdrängen eine Fülle von
Fehlleistungen.
- Sie verdrängen, dass die Bundeskanzlerin die eigentlich Verantwortliche dafür
ist, dass wir uns die Freihandelsabkommen TTIP und CETA aufzwingen lassen. Sie
vergessen einfach, dass unsere Regierungschefin das unwürdige Verfahren duldet,
wonach unseren Abgeordneten zugemutet wird, über ein Dokument abzustimmen, das
sie gar nicht kennen, oder dass sie unter für Volksvertreter unwürdigen
Umständen Einsicht nehmen müssen.
- Sie verdrängen, dass die Atomarsenale der USA in Deutschland auf den neuesten,
einen um vieles mörderischeren Stand gebracht werden, ohne dass die
Bundeskanzlerin dazu etwas Kritisches sagt oder gar dagegen interveniert.
Sie verdrängen, dass vom deutschen Ramstein aus US-Drohneneinsätze koordiniert
werden, und damit viele Menschen getötet werden.
- Sie blenden bei ihrer Bewunderung für die flüchtlingsfreundliche Bundeskanzlerin
aus, dass diese inzwischen hinter den harten Maßnahmen gegenüber Flüchtlingen
und Asylbewerbern steht, dass sie also zweigleisig fährt.
- Die Bewunderer der Bundeskanzlerin blenden aus, dass Angela Merkel am Zerfall
Europas große Verantwortung, wahrscheinlich die Hauptverantwortung trägt. Die
deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Finanzpolitik hat wesentlich dazu
beigetragen, dass es den notwendigen Gleichklang und Gleichschritt der
Wirtschaftsentwicklung und der Wettbewerbsfähigkeiten in den einzelnen
Euro-Staaten immer weniger gibt. Deutschlands Regierung hat ihr Image gepflegt
mit dem Export von Arbeitslosigkeit. So kann man nämlich die Wirkung andauernder
Exportüberschüsse beschreiben. Die deutsche Bundesregierung hat sich bewundern
lassen für diese Exportüberschüsse und die Bewunderer blenden aus, dass dies
zugleich die Defizite von befreundeten Ländern in Europa waren, die
partnerschaftlich an der gemeinsamen wirtschaftlichen Entwicklung hätten
teilnehmen können sollen. So, mit dieser egoistischen Haltung der deutschen
Regierung würde der Geist Europas gestört und zerstört. Daran ändern Zahlungen
nichts.
- Die Bewunderer der Bundeskanzlerin haben offensichtlich völlig vergessen, dass
sie und ihr Finanzminister Schäuble zusammen mit deutschen Medien und an
vorderer Front die Bild-Zeitung Griechenland und die Griechen auf üble Weise
diffamiert haben: „Pleite-Griechen – verkauft eure Akropolis“. Das war eine von
mehreren ähnlichen Schlagzeilen der Bild-Zeitung und diese üble Hetze war
untermauert von der täglichen Aggression Angela Merkels und ihres
Finanzministers gegenüber der vom griechischen Volk gewählten Regierung. Haben
das die linken und linksliberalen Bewunderer alles vergessen?
Die Bewunderer der derzeitigen deutschen Bundeskanzlerin sind offensichtlich
nicht geneigt, die Wirklichkeit in Deutschland mit offenen und ehrlichen Augen
zu sehen. Sie sind insbesondere nicht bereit, zu sehen, dass die Propaganda,
wonach es angeblich uns allen gut geht, für einen großen Teil unseres Volkes
nicht gilt:
- Wo spielt denn die Wirklichkeit der Hartz IV Bezieher und der
Langzeitarbeitslosen im Bewusstsein und in der Praxis der politisch
Verantwortlichen noch eine Rolle? Ausgeblendet.
- Wissen die Bewunderer von Angela Merkel, wie die Realität in unseren Betrieben
aussieht? Sie kümmern sich nicht drum. Deshalb wissen sie nicht, wie stark dort
inzwischen ganze Abteilungen an Private und ihre Billiglöhner ausgegliedert
werden. Sie wissen nicht, wie tief die kapitalistische Un-Ethik inzwischen in
menschliche Grundbedürfnisse und Gewohnheiten eingreift: in das Bedürfnis nach
Kommunikation. In einem großen Industriebetrieb Baden-Württembergs dürfen die
Stammbelegschaften nicht mit den in den gleichen Hallen und Werkplätzen
arbeitenden Billiglöhnern sprechen. So weit geht das inzwischen. Kümmern sich
die Bewunderer von Frau Merkel um diese Folgen der von ihr verfolgten
neoliberalen Vorherrschaft?
- Es geht uns gut. Diese Parole stimmt einfach nicht. Es geht einem Teil von uns
gut und sehr gut. Und einem anderen Teil geht es überhaupt nicht gut. Viele
Menschen können von ihrem Lohn nicht leben. Viele Menschen verfügen über kein
Vermögen. Viele haben unendlich viele Schulden und wissen nicht, wie sie aus der
Spirale der Verschuldung herauskommen sollen.
- Wer behauptet, es gehe uns allen gut, der hat noch nicht begriffen, dass es
einen sprachlosen Teil unseres Volkes gibt, dass es einen Teil gibt, den die
tonangebenden Medien nicht wahrnehmen und dessen Lebensverhältnisse sie deshalb
nicht ans Licht holen. Und die analytische Kraft des ehedem kritischen
Bürgertums ist inzwischen so zusammengeschrumpft, dass diese Menschen als Bürger
oder Journalisten nicht einmal durchschauen, was uns vorgespielt wird.
- Wird von den Verantwortlichen irgendetwas getan, um die skandalöse Einkommens-
und Vermögensverteilung zu korrigieren? Nichts. Nicht ein Ansätzchen von
notwendigen Korrekturen der Steuergesetzgebung ist zu erkennen. – Wo bleibt denn
zum Beispiel die Streichung der Steuerbefreiung beim Verkauf von Unternehmen und
Unternehmensteilen? Wo bleibt die Korrektur der Erbschaftssteuer und der
Einkommensteuersätze im oberen Bereich?
- Die Bewunderer unserer Bundeskanzlerin blenden aus, welch ein Skandal sich
anbahnt, wenn der Gebrauch des Bargeldes eingeschränkt wird. Hat das alles mit
Angela Merkel nichts zu tun? War die letzte Rettung der Spekulanten im Oktober
2008 auf Kosten der Steuerzahler das Machwerk unbekannter Hintermänner? Nein,
die Rettung der Spekulanten bei der HRE und der IKB war die politische
Entscheidung der Regierungsspitze.
- Die Bewunderer unserer Bundeskanzlerin blenden aus, dass ihr gutes Ansehen
wesentlich damit zu tun hat, dass sie einen Pakt mit den Eigentümerinnen der
großen Medien eingegangen ist: mit Friede Springer vom Springer-Verlag und Liz
Mohn von Bertelsmann. Sie blenden auch aus, dass die Union mit systematischer
Personalpolitik die öffentlich-rechtlichen Sender unterwandert hat. Und sie
blenden aus, welchen Einfluss die USA und die Atlantiker auf die Meinungsbildung
in Deutschland und damit auch auf die Meinung zu ihrer Bundeskanzlerin haben.
Die Verehrer der Bundeskanzlerin blenden aus, dass die Nachfolgerin von Helmut
Kohl, Helmut Schmidt und Willy Brandt nichts Wirkungsvolles getan hat, um das
für uns alle wichtige Lebenswerk dieser Bundeskanzler zu retten: das Ende der
gefährlichen Konfrontation zwischen West und Ost und der Aufbau von Strukturen
gemeinsamer Sicherheit in Europa.
- Die Bewunderer von Angela Merkel blenden aus, dass sie nichts gegen die von den
USA geforderten Sanktionen gegenüber Russland unternommen hat.
- Sie verdrängen, dass der Westen die Konfrontation durch Ausweitung der NATO bis
an die Grenze Russlands und entsprechende Operationen der Europäischen Union neu
belebt und gefördert hat.
- Sie verzeihen der Bundeskanzlerin offenbar ihre Beteiligung und Unterstützung
für die Kriege des Westens und der NATO in einer Kette von Ländern zwischen
Afghanistan und Mali.
- Sie blenden die Beteiligung der ursprünglichen Verteidigungsarmee Bundeswehr an
militärischen Interventionen all überall aus. Jedenfalls sind diese Vorkommnisse
offensichtlich nicht Gegenstand ihrer Meinungsbildung über die Arbeit der
deutschen Bundeskanzlerin.
Ich kann ja verstehen, dass manche Zeitgenossen müde geworden sind und sich
gerne an das konservative Milieu anpassen, zumal dann, wenn das Sein dafür
spricht, von links unten nach rechts oben zu wandern. Das war schon immer ein
bei vielen Menschen irgendwann fälliger Akt. Menschlich ist das. Aber es ist
zugleich politisch fatal. Weil damit die Substanz und die Zahl, sozusagen die
wirksame Masse des kritischen Bürgertums immer kleiner wird und immer weniger
Früchte trägt.
Das aber sollte sich ändern. Das ist ein Appell.
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