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18.06.2013 15:25
Der wahre Skandal - Soziale Ungleichheit untergräbt die Demokratie
Manche Enthüllungen zeigen nur, was wir schon wussten. Haben wir gerade erst erfahren, dass politisch Verantwortliche Geld mögen und die Nähe derer suchen, die es haben? Dass sie sich zusammen manchmal wie eine Kaste verhalten, die über dem Gesetz steht? Dass der Fiskus sehr vermögende Steuerzahler mit Samthandschuhen anfasst? Dass der freie Kapitalverkehr ihnen ermöglicht, ihren Reichtum in Steueroasen zu verstecken?. [Quelle: monde-diplomatique.de]  JWD

[Auszüge]: Die Aufdeckung individueller Verfehlungen sollte uns ermutigen, das System infrage zu stellen, das sie hervorbringt. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich die Veränderung der Welt schneller vollzogen, als wir sie analysieren können. Der Fall der Berliner Mauer, der Aufstieg der Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), neue Technologien, Finanzkrisen, der Arabische Frühling, der Niedergang Europas: Immer neue Experten meldeten sich dazu zu Wort und kündigten das Ende der Geschichte oder die Geburt einer neuen Weltordnung an.

Jenseits verfrühter Nachrufe und ungewisser Niederkünfte zeichnen sich drei große Tendenzen ab, deren Bilanz zunächst einmal zu ziehen ist: Die massive Zunahme der sozialen Ungleichheit, die Aushöhlung der politischen Demokratie und das Schwinden der nationalen Souveränität. Jeder "Skandal" ist ein Symptom dieses dreifachen Krankheitsbilds und zeigt, wo dessen einzelne Elemente auftreten und wie sie ineinander passen. Der Hintergrund, vor dem sich das alles abspielt, ist, knapp zusammengefasst, folgender: Die Regierungen machen sich in erster Linie von der Einschätzung einer privilegierten Minderheit abhängig (die investiert, spekuliert, einstellt, entlässt, Geld leiht) und lassen dadurch zu, dass sich in der Politik immer mehr oligarchische Strukturen ausbreiten. Und wenn sie sich sträuben, das ihnen vom Volk übertragene Mandat zu missachten, macht sie der weltweite Druck des organisierten Geldes gefügig.

[..] Als François Hollande sechs Monate vor seiner Wahl zum französischen Staatspräsidenten gefragt wurde, wie er sich die "moralisch vorbildliche" Republik vorstelle, die er in seinen Reden beschwor, sprach er vom "französischen Traum": "Er entspricht dem republikanischen Narrativ, das uns trotz Kriegen, trotz Krisen, trotz Spaltungen den Fortschritt ermöglicht hat. Bis vor wenigen Jahren waren wir überzeugt, dass unsere Kinder es einmal besser haben würden als wir." Aber der Kandidat der Sozialisten sagte auch: "Diese Überzeugung ist uns abhandengekommen."

Der Mythos von der sozialen Mobilität ist der Angst vor dem sozialen Abstieg gewichen. [..]

In Manila beging eine junge Frau Suizid, weil sie ihre Studiengebühren nicht mehr bezahlen konnte. Vor zwei Jahren erklärte ein amerikanischer Student: "Ich habe 75 000 Dollar Schulden. Bald werde ich meinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können. Mein Vater hat für mich gebürgt und wird meine Schulden bezahlen müssen. Dann wird er insolvent, und ich habe meine Familie ruiniert, weil ich aufsteigen wollte." Er wollte den amerikanischen Traum "vom Tellerwäscher zum Millionär" leben, und seine Familie wird seinetwegen den umgekehrten Weg gehen.

In einer Gesellschaft, in der "der Sieger alles bekommt", zeugt die Ungleichheit der Einkommen von der ungesunden soziale Schieflage. [..]

Inzwischen macht sich sogar der IWF Sorgen. Lange Zeit verbreitete er, die "Spreizung der Einkommen" bedeute Ansporn, Effizienz, Dynamik. Inzwischen konstatiert er, dass 93 Prozent der Wachstumsgewinne, die in den USA im ersten Jahr der wirtschaftlichen Erholung realisiert wurden, nur dem reichsten 1 Prozent der Amerikaner zugutekamen. Selbst dem IWF scheint das zu viel. Denn von moralischen Erwägungen einmal abgesehen - wie kann ein Land sich weiterentwickeln, wenn vom Wachstum nur noch eine kleine, abgeschottete Gruppe profitiert, die nicht viel kauft, weil sie schon alles hat? Und folglich ihr Geld hortet oder damit spekuliert und auf diese Weise eine bereits parasitäre Finanzindustrie weiter nährt. Vor zwei Jahren räumte der IWF in einer Studie ein, dass das Wachstum zu fördern und die Ungleichheiten zu vermindern "zwei Seiten einer Medaille" seien. [..]

Die enge Verbindung [der Reichen] mit der Politik stellt sicher, dass Kapital auch in Zukunft geringer besteuert werden wird als die Arbeit. Im Jahr 2009 zahlten 6 der 400 reichsten amerikanischen Steuerpflichtigen gar keine Steuern, 27 weniger als 10 Prozent, keiner mehr als 35. Kurz: Die Reichen nutzen ihr Vermögen, um ihren Einfluss zu vergrößern, und dann nutzen sie ihren Einfluss, um ihr Vermögen zu vergrößern. "Nach einiger Zeit", fasst Fukuyama zusammen, "sind die Eliten in der Lage, ihre Positionen zu schützen, indem sie das politische System manipulieren, indem sie ihr Geld ins Ausland bringen, um keine Steuern zahlen zu müssen, indem sie diese Vorteile dank des privilegierten Zugangs zu elitären Einrichtungen an ihre Kinder weitergeben". Man kann sich also vorstellen, dass mehr als ein bisschen Verfassungskosmetik nötig wäre, um hier Abhilfe zu schaffen.

Eine globalisierte Wirtschaft nach der Regel "der Sieger nimmt alles"; nationale Gewerkschaften, die entmachtet sind; niedrige Steuern für hohe Vermögen: Die Ungleichheitsmaschine gestaltet den ganzen Planeten um. Die 63 000 Menschen (davon 18 000 in Asien, 17 000 in den Vereinigten Staaten und 14 000 in Europa), die mehr als 100 Millionen Dollar besitzen, verfügen zusammen über ein Vermögen von 39 900 Milliarden Dollar. Die Reichen bezahlen zu lassen wäre also nicht nur eine symbolische Geste. [..]

Das US-amerikanische Institut Demos hat die Wirkung der Nähe zwischen Regierungsverantwortlichen und Wirtschaftsoligarchen untersucht. Vor zwei Monaten erstellte es einen detaillierten Bericht, inwieweit "die Dominanz der Reichen und der Unternehmen in der Politik die soziale Mobilität in Amerika bremst". Ergebnis: In der Wirtschafts- und Sozialpolitik und beim Arbeitsrecht haben die reichsten Bürger übereinstimmend deutlich andere Prioritäten als die Mehrheit ihrer Mitbürger. Aber sie verfügen über überdurchschnittliche Mittel, um ihre Wünsche durchzusetzen. [..]

Bei der Umsetzung der Maßnahmen, die den Einfluss des Kapitals und der Bezieher von Kapitaleinkünften auf die Steuerpolitik festigen, haben es die Regierungen stets verstanden, sich auf den Druck von "Wählern" außerhalb ihrer Landesgrenzen zu berufen, deren unwiderstehliche Macht sie nur erwähnen mussten: die Troika, die Ratingagenturen, die Finanzmärkte. Sobald die nationalen Wahlzeremonien abgeschlossen sind, lassen die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und der IWF umgehend den neu gewählten Politikern ihre "Roadmaps" zukommen, damit sie noch in der laufenden Sitzung diesem oder jenem Wahlversprechen abschwören können. [..]

Ein hoher Beamter der Europäischen Kommission berichtet über ein Treffen seiner Kollegen mit der Spitze des französischen Finanzministeriums: "Es war unglaublich. Sie benahmen sich wie ein Schulmeister, der einem schlechten Schüler erklärt, was er zu tun hat. Ich habe den Direktor des Finanzministeriums sehr bewundert, dass er die Ruhe bewahrt hat."(22) Die Szene erinnert an die Situation von Äthiopien oder Indonesien zu der Zeit, als die dortigen Staatschefs zu Ausführungsorganen für die Strafmaßnahmen degradiert wurden, die der IWF über ihre Länder verhängt hatte. So läuft es gegenwärtig auch in Europa. Im Januar 2012 verlangte die Europäische Kommission in Brüssel von der griechischen Regierung, bei den öffentlichen Ausgaben 2 Milliarden Euro einzusparen - innerhalb von fünf Tagen und unter Androhung von Geldstrafen. [..]

Bernard Arnault, Besitzer des Luxusgüterkonzerns LVMH und zehntreichster Mensch der Erde, freut sich über den Einflussverlust der demokratischen Regierungen: "Die Unternehmen, vor allem die internationalen, verfügen über immer mehr Mittel, und in Europa können sie den Wettbewerb unter den Staaten ausnutzen […] Der reale Einfluss von Politiken auf die Wirtschaft eines Landes wird immer geringer. Zum Glück."

Im Gegenteil: Der Druck auf die Staaten wächst. Er kommt von den Gläubigerstaaten, der Europäischen Zentralbank, dem IWF, den Finanzmärkten und der Kontrolle durch Ratingagenturen. Jean-Pierre Jouyet, derzeit Präsident der Banque Publique d'Investissement (BPI), hat vor zwei Jahren eingeräumt, dass die Finanzmärkte in Italien "Druck auf die demokratische Politik ausgeübt haben. Auf deren Initiative hin ist die dritte Regierung wegen der hohen Schulden gestürzt. […] Der steile Anstieg der Zinsen auf die italienischen Staatsschulden war der Stimmzettel der Finanzmärkte. […] Irgendwann werden die Bürger gegen diese faktische Diktatur revoltieren."

Aber die "faktische Diktatur" kann darauf zählen, dass die großen Medien für Ablenkung sorgen, durch die kollektive Revolten erst verzögert und dann umgeleitet werden; die schlimmsten Skandale werden personalisiert, und das heißt: entpolitisiert. Aufzudecken, wo die wahren Verantwortlichkeiten liegen für das, was passiert, aufzuklären, mit welchen Mitteln es einer Minderheit gelungen ist, die Reichtümer und die Macht an sich zu reißen, einer Minderheit, die die Märkte und die Staaten kontrolliert - das erfordert kontinuierliche Arbeit an der Bildung der Öffentlichkeit. [..] [Ende Auszüge]

Link zum vollständigen Originalartikel bei ' monde-diplomatique.de ' ..hier


 
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