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15.06.2013 20:10
Bericht aus Istanbul
Türkei - Fast zwei Wochen dauern die Proteste in Istanbul und in anderen Städten der Türkei bereits an. Die deutschen Medien berichten darüber meist sehr kurz und auch die Politiker konnten sich bisher noch nicht zu einer offiziellen Stellungnahme durchringen. Dem hpd ist es gelungen, einen Bericht direkt aus Istanbul zu erhalten, der über die Stimmung in der Stadt Auskunft gibt. [Quelle: hpd.de]  JWD

8.6.2013 13h – Landung in Istanbul

Der Flughafen ist erstaunlich leer und friedlich. Das erste Mal habe ich nicht in einer langen Schlange stehen müssen. Ich bin eher so programmiert, dass ich lange anstehen werde. Angenehme Überraschung. So komme ich relativ schnell aus dem Flughafengebäude raus. Mit dem Taxi fahre ich nach Bakirköy, um dann die Fähre nach Bostanci, dem asiatischen Teil der Stadt zu nehmen. Dort werde ich abgeholt.

Die 14-Uhr-Fähre schaffe ich zeitlich, allerdings wird durchgesagt, dass die Kapazität ausgelastet ist. So bleibt nichts anderes übrig, als auf die nächste Fähre um 15 Uhr zu warten. Ein Mann schimpft laut: "… verarscht Euch selbst, seit der Privatisierung sind die Touren gekürzt und die Fähren überfüllt. Sie sparen nur Kosten um mehr Profit zu haben …". 2011 wurde die IDO für 861 Millionen Dollar privatisiert.

Am Kiosk des Wartesaals nehme ich mir eine Flasche Wasser und einen Tee, setze mich auf die Bank und warte geduldig. Eine Frau in einem Hosenanzug, ich schätze sie ca. Mitte 50, sitzt auf der Bank gegenüber und telefoniert laut. Offensichtlich spricht sie mit einer Freundin: "… meine Liebe, die waren schon immer so. Jetzt sieht man nur ihr wahres Gesicht. Vergiss die Nachrichten im TV, diese verkommenen Lumpen. Du hast doch Internet, dort findest Du wahre Berichterstattung. Schau, was dort alles geschrieben und gezeigt wird, dann siehst Du was wirklich los ist …"

Das "lila Quartier"Ich steige in die Fähre ein, nehme mir den erstbesten Platz. Eine junge Frau nimmt neben mir Platz und holt ihr Smartphone raus und geht ihre Twitter-News durch. Soweit ich einen Blick darauf werfen kann, versucht sie sich ein Bild zu verschaffen. Ich erkenne die Seite des Gezi Park, Carsi Gruppe und CHP. [..]

Weiterlesen im Originaltext bei ' hpd.de ' ..hier


Passend zum Thema:

14.06.2013
Sie trauen Erdogan inzwischen alles zu
Der Premier will nicht auf die Demonstranten zugehen. Was nach den heftigen Übergriffen der Polizei bleibt, ist die Herrschaft des Misstrauens…

Erst mit Tränengas auf Demonstranten schießen, dann mit ihnen sprechen? So lässt sich kein Konsens finden. Der türkische Premier hat sich als unberechenbar und listenreich erwiesen…

Doch Misstrauen herrscht auch bei der AK Parti von Erdogan vor. Im engsten Kreis um den Premierminister glaubt man nicht an das Motiv der Demonstranten, Bäume schützen zu wollen. Man hält sie für bezahlt und gedungen. Von der internationalen Zinslobby, die von hohen Zinsen und einer schwachen Lira profitieren wolle. Vom finsteren Ausland, das der Türkei ihren Erfolg nicht gönne.  [Quelle: Zeit.de | nds.de]


Ein Leser der Nachdenkseiten schreibt zum dortigen Hinweis auf den Zeit-Artikel folgende, wie ich meine, sehr aufschlussreiche  Anmerkung:
    In manchen Medienberichten anlässlich der jüngsten Bürgerproteste in der Türkei war die Rede davon, die wirtschaftliche Lage in der Türkei sei eigentlich gut, die Proteste richteten sich vielmehr gegen die Person Erdogan bzw. gegen bestimmte Beschränkungen persönlicher Freiheiten. So hieß es z.B. im oben zitierten Beitrag auf Zeit Online: „Die Ruhe, die der Türkei in den vergangenen Jahren einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung, politische Stabilität und die Aussicht auf Frieden mit den Kurden bescherte, wird so schnell nicht zurückkehren“, ein beispielloser Wirtschaftsaufschwung also.

    Außerdem berichteten die Nachdenkseiten am 13.6. über eine Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in der Türkei. Dort wird zitiert, „dass die türkische Regierung im Zusammenhang mit dem Prozess des EU-Beitritts neoliberale Wirtschaftsreformen und die Deregulierung“ rasch vorangetrieben habe.

    Ich habe mir daher einige Wirtschaftsdaten aus der AMECO-Datenbank der EU-Kommission herausgesucht, Stand 3.5.2013. In den nachstehenden Diagrammen sind die folgenden beiden Kenngrößen 2000-2012 dargestellt, jeweils für die Türkei und zum Vergleich für Deutschland:

    Reales Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer als Index 2005 = 100 (Variable RWCDV; Real compensation per employee, deflator GDP: total economy – National currency: 2005 = 100).



    Arbeitseinkommensquote = Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer als Prozentsatz des BIP (in jeweiligen Preisen) je Erwerbstätigem (Variable ALCD0; Adjusted wage share: total economy: as percentage of GDP at current market prices – Compensation per employee as percentage of GDP at market prices per person employed).



    Ich weiß nicht, wie verlässlich diese Daten und was tatsächlich die überwiegenden Motive der aktuellen Proteste sind, die Betrachtung dieser Datensätze – mit fehlendem Anstieg des Reallohnniveaus und Rückgang der Arbeitseinkommensquote, jeweils noch ungünstiger als in Deutschland – nährt aber Zweifel an einer für die Breite der Bevölkerung günstigen wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei seit der Jahrtausendwende. [nds.de]

Anmerkung: Heiner Flassbeck schreibt immer wieder, man müsse die neoliberale Wirtschaftstheorie vom Kopf auf die Füße stellen. Dieses Bild erscheint mir zutreffend. Stellt man sich auf den Kopf, dann sieht man wirklich eine ansteigende Kurve für die Arbeitseinkommensquote. Nur, - wie lange lebt man so noch?


 
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