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29.06.2012 10:45
Deutschland lebt auf Kosten der anderen
Berlins Nullzinsen sind für Walter Ötsch ein Alarmsignal, das Wachstumspaket eine Mogelpackung und der Fiskalpakt grundverkehrt. Der Ökonom Walter Ötsch hat gemeinsam mit anderen Prominenten einen Aufruf unterzeichnet, der unter dem Titel “Europa neu begründen” um Gehör wirbt. Die Umdeutung der Finanz- und Wirtschaftskrise in eine Staatsschuldenkrise mit entsprechend nationalistischen Untertönen stelle Ursache und Wirkung auf den Kopf, heißt es da. [Quelle: derStandard.at]  JWD


Walter Ötsch ist Volkswirt, Kulturwissenschaftler, Kommunikationsexperte und Coach für Führungskräfte sowie Vorstand des Zentrums für Soziale und Interkulturelle Kompetenz an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Im Interview mit Alexandra Bruckner vom 28.06.2012 begründet der Experte warum er den Fiskalpakt für vollkommen verkehrt hält und für Europa derzeit schwarz sieht.

Der Fiskalpakt wird die Abwärtsspirale beschleunigen, ist sich der Ökonom sicher.
[Auszug]:
Walter Ötsch: Mein Thema ist die Kulturgeschichte des Denkens über die Wirtschaft. Ich erkläre vereinfacht gesprochen den Untergang des Keynesianismus und das Emporkommen des marktradikalen Denkens im 20. Jahrhundert."

[..] Man könnte die Frage stellen, was ist die ökonomische Theorie hinter dem Fiskalpakt?

[..] Man könnte fachspezifisch sagen, es geht (beim angeblichen Sparen) um die Angebotstheorie. Im Hintergrund ist dabei immer die Vorstellung, das Wirtschaftssystem ist im Prinzip sich selbst stabilisierend, das nachfrageorientierte keynesianische Denken wird abgelehnt. Das bedeutet, man muss die Angebotsbedingungen verbessern, wie es etwa in Griechenland und Spanien - Stichwort flexiblere Arbeitsmärkte etc. - gefordert wird. Es ist genau das Denken und zum Teil auch die gleichen Akteure, die vor der Krise die Bedingungen für die ganz große Deregulierung des Finanzsektors gemacht haben.

[..] Diese ungeheure Umdeutung (der Staatsschuldenkrise) ist wirklich beachtlich. Die Krise 2007/2008 hat man als Ausnahme und die Staatschuldenkrise quasi zur Regel erklärt, und das Narrativ ist: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. [..] Wenn man sich anschaut, wie sich die Staatsschulden von 2001 bis 2007 entwickelt haben, [..]. Sie sind in der Tendenz gesunken. Man kann das gar nicht oft genug betonen. Das hat überhaupt nichts mit überbordenden Ansprüchen, mit Ausbau des Sozialstaates zu tun. Erst 2008 gibt es den Sprung, und den kann man erklären mit Bankenrettungsprogrammen, Konjunkturrettungsprogrammen, der Built-in-Stability (die eingebauten Stabilisatoren, Anm.) und den demolierten Wachstumsmodellen von Irland, Spanien, Portugal und Griechenland.

[..] Das Wachstumsmodell der Nordstaaten könnte man beschreiben als eine Art neomerkantile Lohndumpingpolitik - das gilt weniger in Österreich als in Deutschland - und wird als Erfolgsmodell propagiert.

[..] Man könnte ja auch so denken (Zahlungsbilanz-Ungleichgewichte): Im EU-Raum per se ist das ein Nullsummenspiel, und dann heißt das eben, die Deutschen leben auf Kosten der anderen.

derStandard.at: Der Gipfel wird als Wachstumsgipfel tituliert, rund 130 Milliarden sollen auf den Weg gebracht werden. Manche sehen darin Luftbuchungen und ein Mogelpaket. Was erwarten Sie?

[..] Ötsch: Eine Lösung müsste sein, wirklich Wachstumsimpulse zu setzen. Ich kenne dieses 130-Milliarden-Paket noch nicht im Detail. Meine Vermutung ist: Wenn der Fiskalpakt oder das, was es jetzt schon an Sparprogrammen gibt, greift, ist das ein mehrfacher Entzug von effektiver Nachfrage im Vergleich zu den 130 Milliarden. Das heißt, in Summe habe ich ein Programm, das keinerlei Wachstumsimpulse gibt, sondern, im Gegenteil, das Wachstumsimpulse entzieht.

[..] Wäre ich ihr (Kanzlerin Merkels) Berater, würde ich sagen: Drei Schritte zurück und versuchen zu verstehen, warum die Politik bisher gescheitert ist. [..] Der Misserfolg liegt in einem vollkommen falschen Denken in Bezug auf die Ökonomie, nämlich in diesem Selbststeuerungsmodell und in der Missachtung institutioneller Faktoren. Es gibt kein Verständnis dafür, was Fiskalpolitik heißt, was Finanzkapitalismus heißt.

[..] Es könnte einen Einbruch bei den innereuropäischen Exporten geben. Es könnte auch sein, dass sich die Finanzierungsbedingungen in Bezug auf Deutschland selbst verändern. Deutschland ist ja von einer kleinen Ratingagentur herabgestuft worden. [..] Die amerikanischen Banken haben sich zum Teil im Herbst aus der Refinanzierung der europäischen Banken zurückgezogen. Wenn die Deutschen Nullzinsen oder negative Zinsen haben, dann glauben sie, es ist ein Erfolg.

[..], so eine Situation sollten sie (die Deutschen) als Alarmsignal sehen. Es ist die gleiche Art von Alarmsignal, die wir im Herbst 2008 gehabt haben, wo zweimal die Situation war, dass für die amerikanischen Staatspapiere der Yield, die Ertragsrate, negativ war. [..], die Deutschen haben jetzt auch einen negativen Yield. Die Interpretation, die die Deutschen haben, ist: Schaut her, die Anleger vertrauen uns, weil wir so tüchtig sind. Ein negativer Yield ist ein Alarmsignal für absolut gestörte innereuropäische Kapitalströme, stärker geht es gar nicht. [Auszug Ende]


Anmerkung: Die zitierten Textstellen sind gekürzt.  Wichtige Aussagen sind nicht enthalten. Zum Versagen der merkelschen Austeritätspolitik bemerkt Ötsch: Von den ersten Griechenland-Gesprächen bis heute haben die Deutschen jedes Mal gesagt, wir machen das nicht, und dann wurde es doch gemacht. Man macht also aktive Schritte, um die Krise zu vergrößern, zu vergrößern, zu vergrößern. Jetzt haben wir die Krise des gesamten Euros.


Link zum vollständigen Artikel bei ' derstandard.at ' ..hier

Link zum Aufruf - Europa neu begründen -
Den Fiskalpakt stoppen! Die Krise durch Solidarität und Demokratie bewältigen!  ..hier


Fiskalpakt & ESM
Hinweis: Wer sich der Verfassungsbeschwerde von „Mehr Demokratie“ anschließen möchte, siehe ..hier

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