11.02.2007 00:00
Rückblick auf die:
43ste Sicherheitskonferenz (München, 9.–11. Februar 2007)
Unipolare Lenkung ist unrechtmäßig und unmoralisch
In einer Ansprache vor der Münchner Sicherheitskonferenz am 10. Februar 2007
wies Wladimir W. Putin ausdrücklich die US-amerikanische Fantasievorstellung
einer einseitigen Lenkung der Welt als bar jeder juristischen und moralischen
Grundlage zurück. Auch kritisierte er scharf die OSZE und die subversive
Benutzung von Organisationen, die von „Nicht-Regierung“ nur den Namen tragen,
durch bestimmte Staaten. Wir veröffentlichen den gesamten Text dieser wichtigen
Rede, die einen Umschwung in der russischen Außenpolitik markiert.
Von Wladimir Putin |
Voltaire Netzwerk | Munich (Allemagne) | 11. Februar 2007
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Teltschik,
meine Damen und Herren!
Ich danke Ihnen für die Einladung zu einer so repräsentativen Konferenz, die
Politiker, Militärs, Unternehmer und Experten aus über 40 Ländern
zusammengeführt hat.
Das Format der Konferenz bietet mir die Möglichkeit, auf übertriebene
Höflichkeitsformeln zu verzichten, auf diplomatische Klischees, die sich
angenehm anhören, aber hohl sind. Das Format der Konferenz bietet mir die
Möglichkeit zu sagen, was ich wirklich über die Probleme der internationalen
Sicherheit denke. Sollten meine Überlegungen meinen Kollegen allzu polemisch
oder ungenau erscheinen, bitte ich Sie, es mir nicht übel zu nehmen. Dies ist
nur eine Konferenz und ich hoffe, dass Herr Teltschik nicht schon nach den
ersten zwei oder drei Minuten meiner Rede die rote Lampe einschaltet.
Bekanntlich umfasst die Problematik der internationalen Sicherheit viel mehr als
die Fragen der militärpolitischen Stabilität. Die Probleme betreffen die
Stabilität der Weltwirtschaft, die Überwindung der Armut, die wirtschaftliche
Sicherheit und die Entwicklung des Dialogs zwischen den Zivilisationen.
Dieser umfassende und unteilbare Charakter der Sicherheit spiegelt sich in deren
Grundprinzip wider: „Die Sicherheit jedes Einzelnen ist die Sicherheit aller.“
Wie Franklin Roosevelt bereits in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges
sagte: „Wo auch immer der Frieden gebrochen wird, die ganze Welt gerät dadurch
in Gefahr“.
Diese Worte sind bis heute aktuell. Davon zeugt übrigens auch das Thema unserer
Konferenz: „Globale Krisen – globale Verantwortung“.
Noch vor zwei Jahrzehnten war die Welt ideologisch und wirtschaftlich gespalten
und ihre Sicherheit wurde von den gigantischen strategischen Potentialen zweier
Großmächte gewährleistet.
Die globale Konfrontation rückte dringende wirtschaftliche und soziale Fragen an
den Rand der internationalen Beziehungen und der weltweiten Tagesordnung. Der
Kalte Krieg hat uns – wie jeder Krieg – bildlich ausgedrückt „Blindgänger“
hinterlassen. Ich meine damit ideologische Klischees, Doppelstandards und
sonstige Schablonen des von der Existenz der Blöcke geprägten Denkens.
Die nach dem Kalten Krieg vorgeschlagene monopolare Welt ist nicht zustande
gekommen.
Natürlich kennt die Geschichte der Menschheit auch Perioden mit monopolarem
Zustand und mit dem Streben nach der Beherrschung der Welt. In der Geschichte
der Menschheit hat es in dieser Hinsicht bereits so ziemlich alles gegeben.
Was ist aber eine monopolare Welt? Wie auch immer dieser Begriff ausgeschmückt
werden mag – in der Praxis bedeutet er nur eines: ein einziges Machtzentrum, ein
einziges Gewaltzentrum und ein einziges Entscheidungszentrum.
Dies ist die Welt eines einzigen Gebieters, eines einzigen Souveräns. Im
Endeffekt ist sie nicht nur für diejenigen verderblich, die sich innerhalb
dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil dieses
System sich von innen zerstört.
Das hat mit Demokratie nichts zu tun, denn Demokratie ist bekanntlich die Macht
der Mehrheit bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Interessen und Meinungen
der Minderheit.
Übrigens werden uns, Russland, dauernd Lektionen in Sachen Demokratie erteilt.
Aber diejenigen, die uns belehren, wollen aus irgendeinem Grunde selbst nicht
lernen.
Ich glaube, dass das monopolare Modell für die heutige Welt nicht nur
unannehmbar, sondern völlig unmöglich ist. Nicht nur weil bei der Führung durch
einen Einzelnen in der heutigen – gerade der heutigen – Welt weder die
militärpolitischen noch die wirtschaftlichen Ressourcen ausreichen würden. Was
noch wichtiger ist: Das Modell selbst funktioniert nicht, weil es sich nicht auf
die moralische Basis der gegenwärtigen Zivilisation stützt und auch nicht
stützen kann.
Dennoch ist alles, was sich heute in der Welt abspielt – und wir haben gerade
erst begonnen, darüber zu diskutieren – eine Folge der Versuche, gerade diese
Konzeption, die Konzeption der monopolaren Welt, in die internationalen
Angelegenheiten hineinzupflanzen.
Und was kommt dabei heraus?
Die einseitigen, oft unrechtmäßigen Handlungen haben kein einziges Problem
gelöst. Mehr noch: Sie haben zu neuen menschlichen Tragödien und zu neuen
Spannungsherden geführt. Urteilen Sie selbst: Die Kriege, die lokalen und
regionalen Konflikte sind nicht weniger geworden. Herr Teltschik hat das gerade
recht zurückhaltend erwähnt. Dabei sterben in diesen Konflikten nicht weniger,
sondern mehr Menschen als früher. Wesentlich mehr – wesentlich mehr!
Heute beobachten wir eine durch fast nichts gebremste überzogene Anwendung von
militärischer Gewalt in den internationalen Angelegenheiten. Einer Gewalt, die
die Welt in einen Abgrund aufeinander folgender Konflikte stößt. Folglich werden
wir nicht stark genug sein, auch nur einen dieser Konflikte abschließend zu
lösen. Auch ihre politische Lösung wird unmöglich sein.
Wir beobachten eine immer stärkere Geringschätzung der grundlegenden Prinzipien
des Völkerrechts. Mehr noch: Einzelne Normen, fast schon das gesamte
Rechtssystem eines einzelnen Staates – zuerst und vor allem der Vereinigten
Staaten –, haben in jeder Hinsicht die nationalen Grenzen überschritten. Das
zeigt sich in den wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und
bildungsbezogenen Strategien, die anderen Staaten aufgedrängt werden. Wem
gefällt das? Wer könnte sich darüber freuen?
In den internationalen Angelegenheiten trifft man immer häufiger auf das
Bestreben, diese oder jene Frage nach dem sogenannten Kriterium der politischen
Zweckmäßigkeit mit Bezug auf das aktuelle politische Klima zu lösen.
Das ist natürlich äußerst gefährlich und führt dazu, dass sich niemand mehr
sicher fühlt. Ich möchte das betonen: Es fühlt sich niemand mehr sicher, weil
niemand mehr den Schutzwall des Völkerrechts in Anspruch nehmen kann. Eine
solche Politik beschleunigt offensichtlich das Wettrüsten.
Das Übergewicht des Gewaltfaktors fördert zwangsläufig den Drang einiger Länder
zum Besitz von Massenvernichtungswaffen. Mehr noch: Es sind prinzipiell neue
Bedrohungen wie zum Beispiel der Terrorismus entstanden, die früher zwar schon
bekannt waren, aber heute global bedeutend werden.
Ich bin überzeugt, dass wir den entscheidenden Moment erreicht haben, wo wir uns
ernsthaft Gedanken über die Architektur der globalen Sicherheit machen müssen.
Wir müssen ein vernünftiges Gleichgewicht der Interessen aller Teilnehmer am
internationalen Dialog suchen – um so mehr, als sich die internationale
Landschaft so wesentlich und so schnell verändert durch die dynamische
Entwicklung einer ganzen Reihe von Staaten und Regionen.
Frau Bundeskanzlerin hat es bereits erwähnt. Das summierte BIP Indiens und
Chinas, an der paritätischen Kaufkraft gemessen, ist bereits größer als das der
Vereinigten Staaten. Und das auf gleiche Art berechnete BIP der BRIC-Staaten –
Brasilien, Russland, Indien und China – übersteigt das Gesamt-BIP der
Europäischen Union. Den Experten zufolge wird dieser Abstand in absehbarer
Zukunft weiter wachsen.
Ohne Zweifel wird das Wirtschaftspotential der neuen Zentren des globalen
Wachstums zwangsläufig in politischen Einfluss umgesetzt werden und die
Multipolarität stärken.
In diesem Zusammenhang gewinnt die Rolle der multilateralen Diplomatie zunehmend
an Bedeutung. Die Notwendigkeit von Prinzipien wie Offenheit, Transparenz und
Berechenbarkeit ist in der Politik ohne Alternative, während die Gewaltanwendung
eine wirklich außergewöhnliche Maßnahme sein sollte wie auch der Gebrauch der
Todesstrafe in den Rechtssystemen einiger Staaten.
Heute beobachten wir allerdings im Gegenteil, dass Länder, in denen die
Anwendung der Todesstrafe sogar in Bezug auf Mörder und andere gefährliche
Verbrecher verboten ist, sich dennoch leichtfertig zur Teilnahme an
Militäroperationen entschließen, die sich kaum als legitim bezeichnen lassen.
Und in diesen Konflikten sterben Menschen – Hunderte und Tausende von
Zivilisten!
Dabei stellt sich die Frage: Sollen wir gleichgültig bleiben und abseits stehen
bei verschiedenen inneren Konflikten in bestimmten Ländern, angesichts des
Handelns autoritärer Regimes und Tyrannen oder bei der Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen? Das ist das Wesen der Frage, die unser verehrter
Kollege Herr Lieberman [1] an Frau Bundeskanzlerin gestellt hat. (An Joseph Lieberman gewendet:) Wenn ich Ihre Frage richtig verstanden habe, ist sie
natürlich eine ernsthafte Frage! Können wir teilnahmslose Beobachter sein bei
dem, was sich abspielt? Ich versuche ebenfalls, Ihre Frage zu beantworten:
Natürlich können wir das nicht.
Aber haben wir die Mittel zur Verfügung, um diese Bedrohungen abzuwehren? Ja,
die haben wir. Es genügt, sich an die jüngste Geschichte zu erinnern. Ist nicht
in unserem Land der Übergang zur Demokratie ein friedlicher gewesen? Immerhin
hat das Sowjetregime eine friedliche Transformation erlebt – eine friedliche
Transformation trotz der großen Mengen an Waffen, einschließlich der Kernwaffen,
über die es verfügte! Warum sollte man heute bei jeder möglichen Gelegenheit
bombardieren und schießen? Kann es sein, dass es uns ohne die Bedrohung durch
gegenseitige Vernichtung an politischer Kultur und an Achtung der demokratischen
Werte und des Rechts fehlt?
Ich bin davon überzeugt, dass nur die Charta der Vereinten Nationen der
Mechanismus zur Beschlussfassung über die Anwendung militärischer Gewalt als
letztes Argument sein kann. In diesem Zusammenhang habe ich entweder nicht
verstanden, was unser Kollege, der italienische Verteidigungsminister [2], vor
kurzem sagte, oder er hat sich nicht exakt ausgedrückt. Ich jedenfalls habe
gehört, dass die Anwendung von Gewalt nur dann als legitim gelten könne, wenn
der Beschluss von der NATO, der Europäischen Union oder der UNO getroffen wird.
Wenn er wirklich so denkt, dann haben wir unterschiedliche Standpunkte. Oder ich
habe nicht richtig gehört. Als legitim kann die Anwendung von Gewalt nur gelten,
wenn der Beschluss von den Vereinten Nationen genehmigt wird. Die Organisation
der Vereinten Nationen braucht nicht durch die NATO oder die Europäische Union
ersetzt zu werden. Wenn die UNO die Kräfte der internationalen
Völkergemeinschaft wirklich vereinigt und tatsächlich auf Ereignisse in
verschiedenen Ländern reagieren kann, wenn wir die Geringschätzung des
Völkerrechts überwinden, dann wird sich die Situation ändern können.
Anderenfalls wird die Situation in eine Sackgasse geraten und die Zahl der
schweren Fehler vergrößern. Gleichzeitig muss man darauf hinarbeiten, dass das
Völkerrecht hinsichtlich der Konzeption und der Anwendung der Normen einen
universellen Charakter hat.
Und man darf nicht vergessen, dass eine demokratische Handlungsweise in der
Politik unbedingt eine Diskussion und die genaue Ausarbeitung der Entscheidungen
voraussetzt.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die potentielle Gefahr einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen
ist auch mit der offensichtlichen Stagnation auf dem Gebiet der Abrüstung
verbunden.
Russland setzt sich für eine Wiederaufnahme des Dialogs über diese überaus
wichtige Frage ein.
Es ist wichtig, den völkerrechtlichen Rahmen als Basis für die Abrüstung zu
bewahren und dadurch die Fortsetzung des nuklearen Abrüstungsprozesses zu
sichern.
Mit den Vereinigten Staaten haben wir die Reduzierung unseres strategischen
Nuklearwaffenpotentials auf 1.700 bis 2.200 nukleare Sprengköpfe bis zum 31.
Dezember 2012 vereinbart. Russland beabsichtigt, die übernommenen
Verpflichtungen strikt einzuhalten. Wir hoffen, dass unsere Partner genauso
transparent handeln und nicht ein paar hundert Nuklearsprengköpfe für alle Fälle
zurücklegen. Wenn uns der neue Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten
heute erklärt, dass die Vereinigten Staaten diese überzähligen Sprengköpfe nicht
in Waffendepots, sozusagen unter dem Kopfkissen oder unter der Decke verstecken
werden, dann bitte ich Sie aufzustehen und zu seinen Worten zu applaudieren.
Dies wäre eine überaus wichtige Erklärung.
Russland hält am Atomwaffensperrvertrag und am Raketentechnologie-Kontrollregime
fest und beabsichtigt, dies auch weiterhin zu tun. Die in diesen Dokumenten
verankerten Grundsätze haben einen universellen Charakter.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die UdSSR und die
Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren einen Vertrag über die Beseitigung
einer ganzen Klasse von Kurz- und Mittelstreckenraketen unterzeichnet haben.
Diese Dokumente haben aber keinen universellen Charakter.
Heute besitzt bereits eine ganze Reihe von Ländern solche Raketen: Nord- und
Südkorea, Indien, Iran, Pakistan und Israel gehören dazu. Viele Staaten der Welt
entwickeln solche Systeme und wollen sie ihrem Waffenarsenal hinzufügen. Nur die
Vereinigten Staaten und Russland haben die Verpflichtung, keine solchen
Rüstungssysteme zu entwickeln.
Natürlich müssen wir uns unter diesen Bedingungen Gedanken über die
Gewährleistung unserer Sicherheit machen.
Gleichzeitig darf die Entstehung neuer destabilisierender hochtechnologischer
Waffenarten nicht zugelassen werden – selbstverständlich sind Maßnahmen zur
Verhinderung neuer Konfrontationsbereiche, insbesondere im Weltraum, gemeint.
Sternenkriege sind bekanntlich keine Fantasie mehr, sondern Realität. Schon
Mitte der 1980er Jahre waren unsere amerikanischen Partner in der Lage, ihren
eigenen Satelliten abzufangen.
Eine Militarisierung des Weltraums könnte nach Meinung Russlands unberechenbare
Folgen für die internationale Gemeinschaft haben und nichts Geringeres als den
Beginn eines nuklearen Zeitalters provozieren. Wir haben mehrmals Initiativen
auf den Weg gebracht, um den Waffen den Weg ins All zu versperren.
Heute möchte ich Sie darüber informieren, dass wir den Entwurf eines Vertrages
über die Verhinderung der Waffenstationierung im Weltraum vorbereitet haben.
Demnächst wird er unseren Partnern als offizieller Vorschlag zugestellt. Lassen
Sie uns gemeinsam daran arbeiten.
Die Pläne zur Stationierung von Teilen eines Raketenabwehrsystems in Europa
können uns nur beunruhigen. Wer braucht diese neue Runde des Wettrüstens, die in
diesem Fall unvermeidlich wäre? Ich zweifle stark daran, dass die Europäer
selbst sie brauchen.
Raketen mit einer Reichweite von 5.000 bis 8.000 Kilometern, die Europa
tatsächlich bedrohen könnten, hat keines der sogenannten „Problemländer“. Solche
wird es in absehbarer Zukunft nicht geben, sie sind noch nicht einmal
vorhersehbar. Selbst ein hypothetischer Abschuss beispielsweise einer
nordkoreanischen Rakete über Westeuropa gegen das Gebiet der USA widerspricht
eindeutig den Gesetzen der Ballistik – wie man bei uns in Russland sagt: als ob
man mit der rechten Hand ans linke Ohr fassen würde.
Hier in Deutschland muss ich auch den kritischen Zustand des Vertrags über
Konventionelle Streitkräfte in Europa erwähnen.
Der Adaptierte Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa wurde 1999
unterzeichnet. Er berücksichtigte die neue geopolitische Realität – die
Auflösung des Warschauer Paktes. Sieben Jahre sind inzwischen vergangen, und nur
vier Staaten, einschließlich der Russischen Föderation, haben dieses Dokument
ratifiziert.
Die NATO-Länder haben offen erklärt, dass sie den Vertrag, einschließlich der
Bestimmungen über die Flankeneinschränkungen (über die Stationierung einer
bestimmten Zahl von Streitkräften an den Flanken) nicht ratifizieren werden,
solange Russland nicht den Rückzug von seinen Stützpunkten in Georgien und
Moldawien vollzieht. Aus Georgien werden unsere Truppen abgezogen und zwar in
einem beschleunigten Verfahren. Die Probleme, die wir mit unseren georgischen
Kollegen hatten, haben wir geregelt, und das ist allen bekannt. In Moldawien
bleibt eine Gruppierung von 1.500 Armeeangehörigen mit dem Auftrag, den Friedens
zu sichern und Munitionsdepots aus der Sowjetzeit bewachen. Wir besprechen diese
Frage laufend mit Herrn Solana: Er kennt unsere Position. Wir sind bereit, in
dieser Richtung weiterzuarbeiten.
Was geschieht aber zum gleichen Zeitpunkt? Zum gleichen Zeitpunkt werden in
Bulgarien und Rumänien sogenannte flexible Fronten US-amerikanischer Basen mit
jeweils 5.000 Soldaten stationiert. Das bedeutet, dass die NATO ihre Frontkräfte
an unsere Staatsgrenzen heranrückt, während wir den Vertrag streng einhalten und
auf dieses Vorgehen in keiner Weise reagieren.
Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung mit der
Modernisierung der Allianz oder mit der Gewährleistung der Sicherheit in Europa
nichts zu tun hat. Im Gegenteil, dies ist ein Faktor, der eine ernsthafte
Provokation bedeutet und das Niveau des gegenseitigen Vertrauens herabsetzt. Wir
haben das Recht, offen zu fragen: Gegen wen ist diese Erweiterung gerichtet? Und
was ist aus den Versicherungen geworden, die von westlichen Partnern nach der
Auflösung des Warschauer Paktes gegeben wurden? Wo sind diese Erklärungen heute?
Daran erinnert sich niemand mehr. Ich gestatte mir aber, in diesem Raum daran zu
erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat aus der Rede des
NATO-Generalsekretärs Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel anführen. Er sagte
damals: „Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb des
Territoriums der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der
Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“ Wo sind diese Garantien heute?
Die Steine und Betonblöcke aus der Berliner Mauer sind längst als Souvenirs
verteilt worden. Man darf aber nicht vergessen, dass der Mauerfall dank einer
historischen Wahl möglich geworden ist, einer Wahlentscheidung auch unseres
Volkes – des russischen Volkes – für Demokratie und Freiheit, Offenheit und
aufrichtige Partnerschaft mit allen Mitgliedern der großen europäischen Familie.
Jetzt will man uns aber bereits neue Trennlinien und Mauern aufzwingen, die zwar
virtuell sind, aber unseren gemeinsamen Kontinent dennoch aufteilen und
zerschneiden. Werden dann wieder viele Jahre und Jahrzehnte sowie der Wechsel
von mehreren Politikergenerationen erforderlich sein, um diese neuen Mauern
abzutragen und zu zerlegen?
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir treten eindeutig für die Stärkung des Atomwaffensperrvertrags ein. Der
bestehende Rahmen des Völkerrechts erlaubt es, Technologien zu entwickeln, mit
denen Nuklearbrennstoff hergestellt und zu friedlichen Zwecken genutzt werden
kann. Viele Staaten möchten eine eigene Atomenergiewirtschaft aufbauen, um so
ihre Unabhängigkeit von Energielieferungen abzusichern. Wir wissen jedoch, dass
diese Technologien auch für die Herstellung von waffenfähigem Material genutzt
werden können.
Das löst weltweit tiefe Besorgnis aus. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die
Situation um das iranische Atomprogramm. Wenn die Weltgemeinschaft in diesem
Interessenkonflikt keine vernünftige Lösung findet, wird die Welt auch weiterhin
von destabilisierenden Krisen nicht verschont bleiben, denn es gibt weitere
Schwellenländer als den Iran. Wir alle wissen dies. Wir werden kontinuierlich
gegen die Gefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen kämpfen müssen.
Im vergangenen Jahr hat Russland die Gründung internationaler Zentren für die
Urananreicherung angeregt. Wir plädieren dafür, dass solche Zentren nicht nur in
Russland, sondern auch in anderen Staaten gegründet werden, nämlich dort, wo die
friedliche Nutzung von Atomenergie legalisiert ist. Die Staaten, die ihre
Atomenergiewirtschaft entwickeln möchten, könnten an der Arbeit dieser Zentren
teilnehmen und garantiert Kernbrennstoff bekommen, natürlich unter der strengen
Kontrolle durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO).
Mit diesem russischen Vorschlag stehen auch die jüngsten Initiativen von
US-Präsident George Bush im Einklang. Meines Erachtens sind Russland und die USA
in gleichem Maße an der Verstärkung des Regelwerks für die
Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Entwicklung
interessiert. Unsere Staaten sind führend im Hinblick auf ihr Atomwaffen- und
Raketenpotential und müssen daher bei der Ausarbeitung neuer, schärferer
Kontrollmaßnahmen auf dem Gebiet der Nichtweitergabe eine führende Rolle
spielen. Russland ist zu dieser Arbeit bereit. Wir sind in Beratungen mit
unseren amerikanischen Freunden.
Es geht allgemein um die Schaffung eines Systems von politischen Hebeln und
wirtschaftlichen Anreizen, die bei anderen Staaten das Interesse wecken sollen,
ihre Atomenergie zu entwickeln und das eigene Energiepotential zu verstärken,
ohne einen eigenen Kernbrennstoffkreislauf zu schaffen.
In diesem Zusammenhang möchte ich näher auf die internationale
Energiekooperation eingehen. Auch Frau Bundeskanzlerin hat dieses Thema
angesprochen, wenn auch kurz. Auf dem Energiesektor strebt Russland danach,
marktgerechte Bedingungen zu schaffen, die für alle gleich und transparent sind.
Kein Zweifel, dass der Preis für Energieträger auf dem freien Markt bestimmt
werden muss, anstatt Mittel für politische Spekulationen, wirtschaftlichen Druck
oder Erpressung zu sein.
Wir sind für die Zusammenarbeit offen. Ausländische Unternehmen sind an den
größten unserer Energieprojekte beteiligt. Auf ausländisches Kapital entfallen
nach verschiedenen Schätzungen bis zu 26 Prozent der gesamten russischen
Ölförderung – bitte denken Sie über diese Zahl nach – bis zu 26 Prozent des
geförderten Erdöls entfallen auf ausländisches Kapital. Versuchen Sie bitte, mir
ein Beispiel von einer ähnlich breiten Beteiligung russischer Unternehmen an
Schlüsselbereichen der Wirtschaft westlicher Staaten zu nennen. Es gibt keins.
Ich möchte auch an das Verhältnis der Investitionen, die nach Russland fließen,
zu den russischen Investitionen im Ausland erinnern. Dies Verhältnis liegt bei
15 zu 1. Das ist ein hervorragendes Zeugnis für die Offenheit und Stabilität der
russischen Wirtschaft.
Die wirtschaftliche Sicherheit ist ein Bereich, wo sich alle an einheitliche
Grundsätze halten müssen. Wir sind zu einem fairen Wettbewerb bereit.
Dazu hat die russische Wirtschaft immer mehr Möglichkeiten. Diese Dynamik
schätzen sowohl die Experten wie unsere ausländischen Partner vorurteilslos ein.
So wurde kürzlich durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) die Bonitätseinschätzung Russlands nach oben korrigiert: Aus
der vierten Risikogruppe stieg unser Land in die dritte auf. Heute in München
möchte ich unseren deutschen Kollegen für ihre Unterstützung bei dieser
Entscheidung danken.
Wie Sie wissen, hat der Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO)
bereits die Endphase erreicht. Im Zuge der langwierigen Verhandlungen haben wir
mehr als einmal Worte von Redefreiheit, Handelsfreiheit und Chancengleichheit
gehört, allerdings aus irgendeinem Grunde ausschließlich mit Bezug auf den
russischen Markt.
Ein weiteres wichtiges, unmittelbar für die globale Sicherheit relevantes Thema
ist die Armut. Gegenwärtig wird viel über den Kampf gegen die Armut gesprochen.
Aber was entwickelt sich in Wirklichkeit? Einerseits werden stattliche Summen
für Hilfsprogramme zugunsten der ärmsten Länder bewilligt. Doch um ehrlich zu
sein – und viele von Ihnen wissen dies –, diese Summen werden oft von
einheimischen Unternehmen der Geberstaaten benutzt. Andererseits werden die
Subventionen für die Landwirtschaft der Industrieländer nicht gestrichen,
dadurch wird der Zugang anderer Länder zu Hochtechnologien begrenzt.
Lassen Sie uns die Dinge benennen, wie sie sind: Mit der einen Hand vergibt man
Spenden, während mit der anderen nicht nur die wirtschaftliche Rückständigkeit
konserviert wird, sondern auch Profite abgeschöpft werden. Die wachsenden
sozialen Spannungen in den rückständigen Regionen führen unweigerlich zu einer
Zunahme an Radikalismus und Extremismus, sie fördern den Terrorismus und lokale
Konflikte. Wenn all dies zum Beispiel in einer Region wie im Nahen Osten
geschieht, mit seiner zugespitzten Vorstellung von der Außenwelt als einer
ungerechten Welt, dann entsteht das Risiko einer globalen Destabilisierung.
Klar und deutlich müssen die führenden Länder der Welt diese Bedrohung sehen und
dementsprechend ein System von globalen Wirtschaftsbeziehungen mit mehr
Demokratie und mehr Gleichheit aufbauen – ein System, das allen eine Chance und
eine Möglichkeit zur Entwicklung gibt.
Verehrte Damen und Herren, beim Auftritt auf einer Sicherheitskonferenz darf man
das Wirken der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
nicht mit Stillschweigen übergehen. Diese Organisation wurde bekanntlich mit dem
Ziel gegründet, sich mit allen – ich betone dies – mit allen Sicherheitsaspekten
zu befassen: mit militärischen, politischen, wirtschaftlichen und humanitären
und insbesondere mit den Beziehungen zwischen diesen Bereichen.
Aber was ereignet sich heute vor unseren Augen? Wir sehen, dass das
Gleichgewicht deutlich zerstört ist. Es wird versucht, die OSZE in ein
gewöhnliches Instrument im Dienst der außenpolitischen Interessen eines Staates
oder einer Gruppe von Staaten gegen andere Staaten zu verwandeln. Diese Aufgabe
erfüllt auch der bürokratische Apparat der OSZE, der mit den Gründungsländern in
keinerlei Beziehung steht. Auf diese Aufgabe wurde auch das Verfahren der
Beschlussfassung und der Einbeziehung der so genannten
Nicht-Regierungs-Organisationen zugeschnitten. Diese Organisationen sind formell
zwar unabhängig, werden aber zielstrebig finanziert und stehen dementsprechend
unter Kontrolle.
Im humanitären Bereich ist die OSZE den Gründungsdokumenten zufolge dazu
aufgerufen, den Mitgliedsländern der Organisation auf deren Bitte bei der
Einhaltung der internationalen Menschenrechts-Normen beizustehen. Das ist eine
wichtige Aufgabe. Wir unterstützen sie. All das bedeutet aber nicht, dass man
sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen darf, geschweige
denn ein Regime aufzwingen, das entscheidet, wie diese Staaten zu leben und sich
zu entwickeln haben.
Ganz offensichtlich trägt eine solche Einmischung nicht zur Entwicklung wahrhaft
demokratischer Staaten bei, sondern sie macht diese Länder abhängig und folglich
politisch und wirtschaftlich instabil.
Wir erwarten, dass sich die OSZE von ihren unmittelbaren Aufgaben leiten lässt
und Beziehungen zu souveränen Staaten auf der Grundlage von Achtung, Vertrauen
und Transparenz aufbaut.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen. Unsere europäischen Partner rufen
Russland oft – und mich persönlich sehr oft – auf, eine aktivere Rolle in den
internationalen Angelegenheiten zu spielen.
Ich gestatte mir eine kleine Bemerkung dazu. Es ist kaum notwendig, uns dazu
anzuregen. Russland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte
und hatte fast immer das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik betreiben zu
können.
Wir haben auch heute nicht die Absicht, diese Tradition aufzugeben. Gleichzeitig
sehen wir gut, wie sich die Welt geändert hat und schätzen unsere eigenen
Möglichkeiten und Fähigkeiten realistisch ein. Wir möchten es mit ebenfalls
verantwortungsbewussten und selbständigen Partnern zu tun haben, mit denen wir
am Aufbau einer Welt mit mehr Demokratie und Gleichheit arbeiten können, in der
Sicherheit und Wohlstand nicht nur für die Eliten, sondern für alle garantiert
sind.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Wladimir Putin
Übersetzung: Sabine
[1]
Als Befürworter eines militärischen Einsatzes gegen den Iran ist Senator Joseph
Liebermann der Anführer der Falken in der US-amerikanischen Linken. Er
positioniert sich auf der Linie des ausgesprochen antirussischen Henry „Scoop“
Jackson, einer Vaterfigur der Neokonservativen. Anm.d.Red.
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